“Wie die Zeit vergeht” oder “Schon wieder ein Jahr vorbei” sind Sätze, die ich gar nicht mehr aussprechen möchte. Zu Zeiten des Jahreswechsels oder des eigenen Geburtstags haben viele von uns einen festen und durch die Regelmäßigkeit prominenten Termin, an dem wir die letzten zwölf Monate Revue passieren lassen. Was im Job geschehen? Wo waren wir im Urlaub? Wen haben wir dieses Jahr besucht oder nicht besucht?

Gerade die Dinge, die wir versäumt haben, erinnern uns an die Anfang des Jahres noch auf die Agenda geschriebenen Ziele.

Doch warum kommt es uns vor, als wäre das Jahr dieses Mal besonders schnell vergangen? Rennt die Zeit zügiger, je älter wir werden?

In Joshuas Foers Buch Moonwalk mit Einstein: Wie aus einem vergesslichen Mann ein Gedächtnis-Champion wurde beschreibt der Autor ein interessantes Experiment über die Beschleunigung psychologischer Zeit.

Zeit “rennt” nicht

1962 verbrachte der französische Höhlenforscher Michael Siffre in einem extremen Experiment zwei Monate in totaler Isolation in einer unterirdischen Höhle. Ohne Uhr, Kalender oder einen Strahl Sonnenlicht. Seinen Schlaf und seine Esszeiten passte er seiner biologischen Uhr an, aß, wenn er hungrig war und schlief, wenn ihn Müdigkeit überkam. Er wollte erforschen, wie ein natürlicher Rhythmus ohne Zeitvorgaben auf dieses Zeitgefühl auswirkte.

Als ihn sein Support-Team nach zwei Monaten wieder an die Oberfläche holte, war laut Siffres eigenem Tagebuch nur ein knapper Monat vergangen. Sein Experiment zeigte, dass das Zeitgefühl nicht unveränderlich ist. Zeiten gefüllt mit intensiven Erlebnissen dehnen sich aus. Routine und monotone Arbeiten wie die in der unterirdischen Höhle verfliegen und lassen nichts als eine verschwommene Erinnerung übrig.

Das Forschungsfeld der Chrono-Biologie war entstanden.

Das Erlebnisparadox

Warum erscheinen fünf Jahre als Teenager länger als fünf Jahre als 50-Jähriger?
Für mich sind zwei Theorien möglich:

1) die rechnerische Erklärung: Mit dem Alter ist jedes Lebensjahr ein proportional kleinerer Teil des Lebens. 5 Jahre eines 15-jährigen sind ein Drittel seines Lebens. Mit dem Erreichen des 50. Lebensjahres machen die gleichen fünf Jahre noch ein Zehntel aus. In Relation zum Rest des Lebens macht also ein Zehntel der Lebenszeit weniger Erfahrungszeit aus als im Alter eines Teenagers und vergeht – relativ betrachtet – schneller.

2) die erfahrungsbasierte Erklärung: Die zweite und für mich nachvollziehbarere Theorie ist die durch Siffre gemachte Erfahrung. Es könnte sein, dass wir als Kinder noch so viel Neues erleben, dass die Zeit uns länger erscheint, das Gehirn mit der Verarbeitung gut ausgelastet ist und die Erinnerung an all die Erlebnisse ein Jahr füllen und lang werden lassen kann. Es gibt zahlreiche „erste Male“ als Kind, viele Einschnitte und Abenteuer, dass die Zeit zwar währenddessen vielfach verfliegt, aber im Nachhinein gut gefüllt war.

Als Erwachsener scheint die Zeit schneller zu verfliegen, weil wir mehr Routine(n) in unserem Leben haben. Der gleiche Job, die gleiche Familie, die Freunde, die nicht mehr so häufig wechseln wie noch als Jugendlicher. Für einen Teenager ist jedes Jahr unterschiedlich. Für einen mittelalten Beamten ist das Leben gleichmäßiger (glaube ich zumindest…).

Es ist vielleicht vergleichbar mit einer Urlaubsreise in einem von schöner Natur gesegnetem Land. Anfangs bestaunt man die Berge, die Wasserfälle, die weißen Sandstrände, Palmen, unbekannte Tiere und Menschen. Am Ende einer – sagen wir – dreiwöchigen Fahrt fährt man an den ärmsten Lehmhütten vorbei, ohne sich etwas dabei zu denken, denn sie mögen vielleicht Gewohnheit geworden sein, ein Teil des Landes, den man täglich gesehen, leider nicht mehr täglich wahrgenommen hat.

Wenn es folglich um die neuen Reize geht, um die ungewohnten Erlebnisse, um das “anders” – wie können wir das in den Alltag bringen?

Ein Ortswechsel reicht nicht aus

Wenn Zeit sich mit Routine gefühlt beschleunigt, sollte sie mit vielen neuen Erfahrungen länger erscheinen, sich infolgedessen psychologisch (“gefühlt”) ausdehnen. Aber es reicht dabei nicht, wie im obigen Beispiel das Land zu wechseln. “Die Vulkane sahen in Guatemala aber beeindruckender aus.” klingt für jemanden, der Vulkane das Allererste Mal sieht, völlig abstrus. Für jemanden, der sie massenhaft gesehen hat, gibt es Vergleichsmöglichkeiten. Egal, in welchem Land.

Heißt das aber, dass jeder früher oder später in den reißenden Fluss der routinierten Zeitabläufe gerät? Dass jeder eines Tages nur noch in einer einzigen großen Gewohnheit haust und das Leben an ihm vorbei hastet?

Vermeidung der “beschleunigten Zeit”

Letztlich ist das Erlernen einer Fähigkeit irgendwann dazu bestimmt, ein Plateau zu erreichen und kein neues Level mehr zu erreichen. Die Lösung scheint naheliegend:

In jedweder Art von Inkompetenz eine Aufgabe zu sehen, seine Grenzen zu verschieben, Herausforderungen zu finden und damit alte Routinen permanent zu brechen und durch neue zu ersetzen.

Was würde das bedeuten?
Wäre es das Gleiche, wie der Drang, neue Erfolge zu verzeichnen, nach Perfektion in einer Fähigkeit zu streben, der Gier nach immer mehr nachzugeben?
Würde das vielleicht die psychologische Zeit verlängern, die physische aufgrund des eigenen hohen Drucks andererseits verringern?

Die “100-Dinge-vor-dem-Tod-Listen”

Wie viele Dinge haben Sie auf Ihrer Liste, die Sie vor Ihrem Tod noch machen wollen? Nicht erledigen. Sondern bewusst machen und erleben?

Haben Sie eine solche Liste? Ist da etwas, das Sie schon lange machen wollten, es aber nie getan haben? Falls nicht, schauen Sie in sich hinein und überlegen Sie: zu welchen Dingen sage ich wiederholt “Das wollte ich auch schon immer mal tun”?

Schreiben Sie genau diese Dinge auf.

Vor Vielem haben wir einen großen Respekt: vor dem Schwierigkeitsgrad einer Sache, vor den Anstrengungen oder dem Preis einer Tat, den wir nicht zahlen wollen. Vielleicht haben wir Angst vor Neuem und das Alte nicht mehr tun zu können.

Das Rauchen aufzugeben, ist leicht. Ich habe es schon über hundert Mal gemacht.
–unbekannt

Ich bin kein Raucher und stehe damit nicht vor der Entscheidung, damit aufzuhören oder nicht. Ich habe aber viele Vegetarier um mich herum. Die schauen mich zwar (noch) nicht abschätzig an. Sie geben mir aber das eine oder andere Mal mit auf den Weg, welch positive Veränderungen damit einhergehen würden, auf Fleisch zu verzichten und damit nicht nur der Umwelt Gutes zu tun, sondern wahrscheinlich auch mir selbst.

Ich weiß das. Ich verstehe alle Argumente, sehe den Sinn im Vegetarismus und weiß um meine Kraft, neue Gewohnheiten zu beginnen. Aber Fleisch? Das ist so lecker…

“Sind viele andere Sachen ebenfalls”, sagen Sie wahrscheinlich. Und Sie haben Recht damit! Es ist Faulheit vor der Umstellung und der vermeintlich eingegrenzten Auswahl von Nahrungsmitteln. Auch ist es der Trotz vor dem “Du jetzt auch?!” Möglicherweise auch die hindernde Gewohnheit, fast jeden Tag zumindest eine Scheibe Fleisch auf dem Brot zu haben, als Beilage beim Essen, auf der Pizza, als Speck zwischendrin.

Was wäre, wenn ich nicht von 100 auf null zurückfahren würde? Oder nicht von jetzt bis in alle Ewigkeit?

Teilstrecken oder: Wie man sich langsam an Neues herantasten kann

Wie so oft im Leben, habe ich natürlich auch hier die Wahl. Lahme Ausreden vor meine Verantwortung oder meinen Willen zu schieben oder wirklich das zu machen, was ich will. Oder von mir aus Dinge, die andere wollen. Ob Sie tun sollten, was andere von Ihnen verlangen, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.

Es gibt zwei Möglichkeiten: die zeitliche Begrenzung einer neuen Sache und das Ausmaß dieser Sache.

Praktische Anwendungen zu diesen Theorien und dazu noch die Möglichkeit, Ihren Horizont zu erweitern, kindlichen Spaß zu verspüren und damit den Druck der Welt zumindest für ein paar Tage von sich zu schieben, erklärt der Artikel Praktische Übungen, um Ihre gefühlte Lebenszeit zu verlängern.

Foto: Zach Dischner